Zur neuen Version von Mathematica
Es gibt ein Sprichwort, welches heisst: "Was lange waehrt, wird gut." An dieses muessen
sich die Entwickler um Stephen Wolfram im Laufe der letzten Jahre oft erinnert
haben. Ihre neue Version von Mathematica wurde in Teilen schon vor 3 Jahren
vom Chef persoenlich vorgestellt, immer verbunden mit dem Versprechen, dass sie
in absehbarer Zeit auf den Markt kommt. Der interessierte Nutzer wartete
aber vergeblich darauf - bis sie nun endlich im Oktober dieses Jahres in den
Verkauf kam. Nun allerdings mit grossem PR Aufwand, der auch mobile
Demostudios einschliesst, die durch die USA und Europa fahren.
Was gibt es
also Neues in Mathematica?
Was das Frontend, also die Benutzeroberflaeche, anbetrifft, so wartet Mathematica 3.0
mit teilweise revolutionaeren Neuerungen auf. Hier steckte
Wolfram Research den
groessten Teil der Arbeit hinein. Man kann mit Mathematica 3.0 nun hochwertige
und strukturell programmierbare Dokumentationen erstellen, die es in ihrer
Qualitaet teilweise mit TeX aufnehmen koennen. Dazu wurden extra eigene Fonts
(lateinisch, griechisch, gothisch,...) entwickelt. Die Eingabe(!) der mathematischen
Kommandos kann jetzt sogar zweidimensional
erfolgen, also mit den aus der Mathematik gewohnten Zeichen - im Prinzip
versteht Mathematica fast jedes gaengige Symbol, einschliesslich Matrizen in ihrer
ueblichen Form. Hierfuer stehen Macros zur
Verfuegung, die jeder TeX- oder HTML-Anwender auf Anhieb versteht. Alternativ
kann man vorgefertigte Paletten verwenden, die durch Anklicken mit der Maus die
jeweiligen Symbole in das Notebook holen. Neben der neuen, ebenfalls zweidimensionalen
Standardausgabe, kann man auch eine traditionelle Ausgabe waehlen, welche die
Symbole in ihrer Form denen der Lehrbuecher im wesentlichen angleicht. Mit der neuen Version
ist es moeglich, Eingaben partiell auszuwerten, in dem man den gewuenschten
Teil mit der Maus markiert und durch eine Tastenkombination in den Kernel zur
Verarbeitung schickt. Die Ausgabe ist ohne Einschraenkung manipulierbar
und gegebenenfalls sofort wieder als Eingabe
verwendbar, was manchmal sehr viel Zeitersparnis bringen kann. Eine weitere
interessante Neuerung ist die Moeglichkeit, eigene Paletten zu definieren. Das
sind symbolische Buttons, die bei Anklicken vom Nutzer selbst unterlegte
Programme ausfuehren koennen. Das Notebook ist nun auch ein Mathematica-Ausdruck und
damit programmierbar. D.h. man kann Notebooks durch Mathematica 3.0 schreiben
lassen, man kann Notebooks durch ein Programm oeffnen und es z.B.
veraendern, usw.. Der Optioneninspektor hat eine kaum noch ueberschaubare Vielfalt
der Manipulationsmoeglichkeiten, man kann im Prinzip jedes Element des
Notebooks individuell gestalten.
Nach diesen - nicht vollstaendigen - Bemerkungen zur neuen Benutzeroberflaeche wird
sich der Physiker sicher fragen, was denn der Kernel so alles neu oder besser kann.
Hier hat Wolfram Research an einigen Stellen wesentlich zugelegt. Meiner Meinung nach
ist der Integrator dabei das Glanzstueck. Er duerfte im Moment das Beste sein,
was auf dem Markt ist. Nach Aussagen der Entwickler kann der Gradshteyn/Ryshik
reproduziert werden (wobei einige Fehler im Buch gefunden wurden). Fuer mich
ist beeindruckend, dass vor allem auch Integrale ueber Spezielle Funktionen
in nennenswerter Zahl geloest werden koennen. Wenn man weiss, dass Oleg Marichev
dabei federfuehrend taetig gewesen ist, wundert das einen dann allerdings nicht mehr
so sehr. Mathematica 3.0 erlaubt jetzt die Angabe von Annahmen ueber
Parameter in Integralen, was die Glaubwuerdigkeit der Loesungen stark befoerdert.
Natuerlich gibt es einige fehlerhafte Resultate, jedoch im wesentlichen
dann fuer bestimmte Integrale (die auch von Parametern abhaengen koennen).
Unbestimmte Integrale sollten, sofern ueberhaupt eine Loesung angegeben wird,
mit grosser Sicherheit richtig sein. Sie werden mit einer erweiterten
Version des Risch Algorithmus berechnet.
Ermoeglicht wurde dies u.a. durch die Erweiterung der implementierten
Speziellen Funktionen. So kann man jetzt auf verallgemeinerte hypergeometrische
Fuktionen, MeijerG-Funktionen, Fresnelsche Funktionen, Weierstrass-Funktionen usw.
zurueckgreifen. Entscheidend verbessert wurde auch die Vereinfachung symbolischer
Ausdruecke. Neben der normalen Simplify-Routine gibt es nun ein FullSimplify, das zwar
zeitintensiver ist, andererseits aber ein Vielzahl von Beziehungen vor allem Spezieller
Funktionen ausnutzt.
Erweitert wurden auch die Moeglichkeiten zum Loesen von Differentialgleichungen.
Als Methoden werden hier z.B. Matrix Exponentierung, Kovacs Algorithmus oder auch
Symmetrie-Reduktionstechniken genannt.
Prototypen
wie Abelsche, Riccatische oder Emden-Fowler DGl bereiten keine Schwierigkeiten.
Sowohl Randwert- als auch Anfangswertprobleme sind behandelbar. Es waere allerdings
wuenschenswert, wenn demnaechst auch Annahmen ueber den Wertebereich moeglicher Parameter
in die Loesung mit einfliessen koennten. Die erzeugenden Differentialgleichungen fuer
die bekanntesten Speziellen Funktionen oder orthogonalen Polynome sind fuer
Mathematica 3.0 nun kein Problem mehr. Auch einige partielle Differentialgleichungen sind
in Form allgemeiner Funktionen loesbar.
Die Arbeit mit numerischen Ausdruecken wurde stark erweitert. Numerische Rechnungen
werden nun so durchgefuehrt, dass das Resultat tatsaechlich die geforderte Genauigkeit
besitzt. Eine ganze Reihe neuer Numerik-Funktionen wurde implementiert, so
zur Intervallarithmetik oder auch zur Interpolation. Die Routine Compile fuehrt
(im Durchschnitt) im Vergleich zur aelteren Version auf eine drei- bis
vierfach erhoehte Rechengeschwindigkeit und ist dazu auf eine groessere Klasse
von Routinen anwendbar. Eine Konkurrenz zu Compilersprachen stellt Mathematica 3.0
- was anspruchsvolle Aufgaben anlangt - sicher nicht dar, hat aber teilweise recht
effektive Algorithmen implementiert. So werden die Eigenwerte einer symmetrischen
400x400 Matrix durch Mathematica 3.0 schneller berechnet als durch eine
entsprechende Routine aus den Numerical Recipes in C (wobei das keine allgemeine
Wertung der letzteren beinhalten soll). Die Verfahren der numerischen
Integration und Loesung von Differentialgleichungen wurden erweitert, man kann
zwischen einigen Methoden explizit waehlen. In der neuen Version gibt es zwar auch
ein Monte Carlo Verfahren zur Integration, ohne Fehlerangabe bleibt es jedoch
von etwas zweifelhaftem Wert.
An der Grafik wurde nicht so sehr viel geaendert. In die Beschriftung kann jetzt
der gesamte verfuegbare Font eingebunden werden - mit Hoch- und Tiefstellungen.
Speziell fuer Physiker duerfte von Interesse sein, dass nun Daten mit Fehlerbalken
(allgemein sogar mit frei programmierbaren Fehlerfunktionen) dargestellt werden koennen.
Eine weitere wesentliche Verbesserung besteht darin, dass man nun
grafische Objekte in fast alle gaengigen Formate wie GIF, TIFF, EPS, PICT oder
auch PBM umwandeln kann.
Es bleibt zu hoffen, dass (wie zugesagt) ab der naechsten Version von der
reinen Postscriptdarstellung
der Grafik abgegangen wird. Das wuerde die Manipulationsmoeglichkeiten grafischer
Objekte wesentlich erweitern.
Die Dokumentation und das Hilfesystem wurden komplett neu gestaltet.
Stephen Wolfram hat sein Buch
auf etwa 1400 Seiten erweitert. Fuer mich ist
es ein Musterbeispiel fuer eine gut durchdachte Einfuehrung in
ein komplexes Softwaresystem. Da ein solch schweres Werk nicht immer ins
Handgepaeck passt, ist es vollstaendig auf der ausgelieferten CD enthalten. Zudem
ist es auch in das on-line-Hilfesystem integriert, das mit Themen- und Masterindexsuche das
heute uebliche Niveau repraesentiert. Zu jedem Punkt gibt es interaktiv ausfuehrbare
Beispiele, die man in das eigene Notebook kopieren kann. Die Standard add-on
Pakete werden sowohl in der on-line Hilfe dokumentiert, als auch in einem
zusaetzlichen Buch beschrieben. Die kommerziell vetriebenen Zusatzpakete
werden nach und nach in die Version 3.0 umgeschrieben, ihre grundsaetzliche
Funktionalitaet wird dabei nicht veraendert. Die bisherigen Programme
laufen auch unter der Version 3.0, es gibt dazu ein mitgeliefertes
Konvertierungsprogramm. Die Unterteilung der
gespeicherten notebook Dateien in *.ma und *.mb wurde zugunsten einer *.nb Datei
aufgegeben.
Die Unabhaengigkeit von der Plattform soll dadurch besser gewaehrleistet werden,
was ich nach meinen bisherigen Erfahrungen bestaetigen kann.
Die Nutzung der neuen Moeglichkeiten der Kommunikation ueber das Internet via WWW
wurde in ersten Schritten erschlossen. Man kann sein Notebook als HTML-Dokument
speichern und so Web-Seiten erstellen. Zudem besitzt Wolfram Research
eine Web-Seite,
auf der als Service das Loesen von Integralen
angeboten wird. Und wer noch immer zuviel Geld uebrig hat, kann sich mit
Mathematica-Tassen, -Sweat-Shirts, -T-Shirts, -Baseballmuetzen, usw. eindecken,
Visa oder Master Card genuegt... .
Mathematica 3.0 wird derzeit fuer Windows (95 und NT), Macintosh, SPARC, HP,
Silicon Graphics, Linux und NEXTSTEP angeboten. Auf Draengen einer Vielzahl von Kunden
soll im Sommer 1997 eine Version fuer Windows 3.11 erscheinen, was eigentlich nicht
vorgesehen war.
Man kann durchaus sagen, dass Wolfram Research mit der Version 3.0 in einigen
Bereichen neue Marksteine gesetzt hat. Das Ziel ist die Schaffung eines
Systems, das hohe Rechenleistung mit hochqualitativer Praesentation vereinigt -
die perfekte elektronische Dokumentation fuer Forschung, Lehre und Technik.
Da die Entwicklung nicht stehenbleibt, kann man auf die neuen Versionen der anderen
universellen Computeralgebrasysteme gespannt sein.
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Holger Perlt,
11-6-96